Bundesverfassungsgericht zu Corona-Einschränkungen

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Bundesverfassungsgericht zu Corona-Einschränkungen

Beitragvon Gado » 18 Apr 2020, 09:29

Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Eilverfahren darüber entschieden, ob die angeordneten Beschränkungen zur Eindämmung der Corona-Epidemie - wie von den jeweiligen Beschwerdeführern behauptet - verfassungswidrig waren. Soweit ersichtlich, hat das Gericht den Beschwerdeführern in nur einem Fall Recht gegeben. Die drei zuletzt veröffentlichten Beschlüsse werden nachfolgend mitgeteilt.


1. Am 7.4.2020 wurde der Antrag auf vorläufige Außerkraftsetzung der bayerischen Verordnung über Infektionsschutzmaßnahmen und über eine vorläufige Ausgangsbeschränkung anlässlich der Corona-Pandemie abgelehnt. Der Antragsteller hielt die Verbote, Freunde zu treffen, seine Eltern zu besuchen, zu demonstrieren oder neue Menschen kennenzulernen, für zu weitgehend. In der Begründung des Gerichts heißt es unter anderem:

Eine geltende Regelung kann im Eilrechtsschutz nur ausnahmsweise außer Vollzug gesetzt werden; dabei ist ein strenger Maßstab anzulegen. Nach diesem erscheinen die Folgen der angegriffenen Schutzmaßnahmen zwar schwerwiegend, aber nicht im geforderten Maß unzumutbar. Es erscheint nicht untragbar, sie vorübergehend zurückzustellen, um einen möglichst weitgehenden Schutz von Gesundheit und Leben zu ermöglichen, zu dem der Staat grundsätzlich auch nach der Verfassung verpflichtet ist. Gegenüber den Gefahren für Leib und Leben wiegen die Einschränkungen der persönlichen Freiheit weniger schwer. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die Regelungen befristet sind, bezüglich der Ausgangsbeschränkungen viele Ausnahmen vorsehen und bei der Ahndung von Verstößen im Einzelfall im Rahmen des Ermessens individuellen Belangen von besonderem Gewicht Rechnung zu tragen ist.

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... B.1_cid370



2. Am 10.4.2020 wurde der Antrag auf vorläufige Außervollzugsetzung einer Regelung der Verordnung zur Bekämpfung des Corona-Virus der hessischen Landesregierung (Corona-Verordnung), die unter anderem ein Verbot von Zusammenkünften in Kirchen enthält, auf der Grundlage einer Folgenabwägung abgelehnt. In der Begründung des Gerichts heißt es unter anderem:

Bei einer antragsgemäßen vorläufigen Außervollzugsetzung des Verbots von Zusammenkünften in Kirchen versammelten sich voraussichtlich sehr viele Menschen in Kirchen, gerade auch über die Osterfeiertage. Damit würde sich die Gefahr der Ansteckung mit dem Virus, der Erkrankung vieler Personen, der Überlastung der gesundheitlichen Einrichtung bei der Behandlung schwerwiegender Fälle und schlimmstenfalls des Todes von Menschen nach der maßgeblichen Risikoeinschätzung des Robert-Koch-Instituts vom 26. März 2020 erheblich erhöhen, obwohl dies im Falle der Erfolglosigkeit einer Verfassungsbeschwerde durch ein Gottesdienstverbot in verfasssungsrechtlich zulässiger Weise hätte vermieden werden können. Diese Gefahren blieben dann auch nicht auf jene Personen beschränkt, die freiwillig an den Gottesdiensten teilgenommen haben, sondern erstreckten sich auf einen erheblich größeren Personenkreis.

Nach Auffassung der Kammer hat der Schutz vor diesen Gefahren für Leib und Leben derzeit trotz des damit verbundenen überaus schwerwiegenden Eingriffs in die Glaubensfreiheit Vorrang vor dem Schutz dieses Grundrechts. Nach der Bewertung des Robert-Koch-Instituts kommt es in dieser frühen Phase der Corona-Pandemie darauf an, die Ausbreitung der hoch infektiösen Viruserkrankung durch eine möglichst weitgehende Verhinderung von Kontakten zu verlangsamen, um ein Kollabieren des staatlichen Gesundheitssystems mit zahlreichen Todesfällen zu vermeiden. Die Kammer stellt klar, dass für die Folgenabwägung auch die Befristung der Corona-Verordnung bis zum 19. April 2020 von Bedeutung ist. Damit ist sichergestellt, dass die Verordnung unter Berücksichtigung neuer Entwicklungen der Corona-Pandemie fortgeschrieben werden muss. Bei jeder Fortschreibung der Verordnung muss mit Blick auf den mit einem Gottesdienstverbot verbundenen überaus schwerwiegenden Eingriff in die Glaubensfreiheit eine strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit erfolgen und untersucht werden, ob es angesichts neuer Erkenntnisse etwa zu den Verbreitungswegen des Corona-Virus oder zur Gefahr einer Überlastung des Gesundheitssystems verantwortet werden kann, das Verbot von Gottesdiensten unter - gegebenenfalls strengen - Auflagen und möglicherweise auch regional begrenzt zu lockern.

Die Kammer weist abschließend darauf hin, dass Gleiches auch für andere Religionsgemeinschaften gilt, die durch das Verbot von Zusammenkünften vergleichbar schwerwiegend betroffen sind, weil für sie die gemeinsame Zusammenkunft ihrer Gläubigen ebenfalls zentraler Bestandteil ihres Glaubens ist.

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... B.1_cid370



3. Der Beschwerdeführer meldete bei der Stadt Gießen mehrere Versammlungen unter dem Motto „Gesundheit stärken statt Grundrechte schwächen – Schutz vor Viren, nicht vor Menschen“ an. Die Stadt Gießen verbot die Veranstaltung. Am 15.4.2020 wurde die beantragte einstweilige Anordnung mit folgenden Erwägungen erlassen:

Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist geboten, weil die Verbotsverfügung den Antragsteller offensichtlich in seinem Grundrecht aus Art. 8 GG verletzt. Art. 8 Abs. 1 GG gewährleistet für alle Deutschen das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden. Die Verordnung der Hessischen Landesregierung zur Bekämpfung des Corona-Virus enthält jedenfalls kein generelles Verbot von Versammlungen unter freiem Himmel für mehr als zwei nicht dem gleichen Hausstand angehörige Personen. In diesem Sinne hat sich auch die Hessische Landesregierung in ihrer Stellungnahme vom 15. April 2020 eingelassen. Demgegenüber nimmt die Stadt Gießen an, der Verordnungsgeber habe „auch bewusst öffentliche Versammlungen nach dem Versammlungsgesetz unterbinden“ wollen. Sie ist in ihrer Verbotsverfügung erkennbar jedenfalls von einem generellen Verbot von Versammlungen von mehr als zwei Personen ausgegangen, die nicht dem gleichen Hausstand angehören. Auf der Grundlage dieser unzutreffenden Einschätzung hat die Stadt Gießen Art. 8 Abs. 1 GG verletzt, weil sie verkannt hat, dass § 1 der Verordnung der Versammlungsbehörde für die Ausübung des durch § 15 Abs. 1 VersG eingeräumten Ermessens gerade auch zur Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Versammlungsfreiheit einen Entscheidungsspielraum lässt. Der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 8 Abs. 1 GG konnte sie schon deshalb von vornherein nicht angemessen Rechnung tragen. Darüber hinaus wird die Entscheidung der Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens den verfassungsrechtlichen Maßgaben des Art. 8 Abs. 1 GG auch deshalb nicht gerecht, weil sie über die Vereinbarkeit der Versammlung mit § 1 der Hessischen Verordnung nicht unter hinreichender Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls entschieden hat. Die Antragsgegnerin des Ausgangsverfahrens macht überwiegend Bedenken geltend, die jeder Versammlung entgegengehalten werden müssten, und lässt auch damit die zur Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 GG bestehenden Spielräume des § 1 der Verordnung leerlaufen.

Die Stadt Gießen hat nun Gelegenheit, erneut darüber zu entscheiden, ob die Durchführung der vorgenannten Versammlungen von bestimmten Auflagen abhängig gemacht oder verboten wird.

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... B.1_cid370
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Re: Bundesverfassungsgericht zu Corona-Einschränkungen

Beitragvon Gado » 14 Jan 2021, 07:29

Im Jahr 2020 verzeichnete das Bundesverfassungsgericht 882 Eingänge in Bezug auf einschränkende Corona-Maßnahmen. Davon scheiterten 571 im Vorfeld, weil die Verfahrensvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Von 311 Eilanträgen waren nur 3 erfolgreich; hierbei ging es um allzu pauschal erlassene Gottesdienst- oder Demonstrationsverbote. In einigen Corona-Eilentscheidungen heißt es ausdrücklich, dass die Erfolgsaussichten der gleichzeitig eingelegten Verfassungsbeschwerde offen seien.

https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldu ... rt-steigen
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Re: Bundesverfassungsgericht zu Corona-Einschränkungen

Beitragvon Gado » 11 Dez 2021, 05:03

Im vergangenen Monat hat das Bundesverfassungsgericht nach der Vielzahl von Eilentscheidungen erstmals in mehreren Hauptsacheverfahren entschieden, die Rechtslage also nicht nur - wie zuvor - summarisch geprüft, sondern in aller Ausführlichkeit beurteilt. Das Gericht kam zum Ergebnis, dass die sogenannte Bundesnotbremse, die bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von mehr als 100 die Anordnung von Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen vorschrieb, trotz der damit verbundenen Grundrechtseingriffe in der äußersten Gefahrenlage der Pandemie verfassungsmäßig war.

Bezüglich der Kontaktbeschränkungen führt das Gericht aus, dass dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Eignung einer Regelung ein Spielraum zusteht, der sich auf die Einschätzung und Bewertung der tatsächlichen Verhältnisse, auf die etwa erforderliche Prognose und auf die Wahl der Mittel bezieht, um die Ziele des Gesetzes zu erreichen. Erfolgt der Eingriff zum Schutz gewichtiger verfassungsrechtlicher Güter und ist es dem Gesetzgeber angesichts der tatsächlichen Unsicherheiten nur begrenzt möglich, sich ein hinreichend sicheres Bild zu machen, ist die verfassungsgerichtliche Prüfung auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Eignungsprognose beschränkt.
Im vorliegenden Fall waren die angeordneten Maßnahmen geeignet und zum Schutz von Leben und Gesundheit sowie zur Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Gesundheitswesens erforderlich. Sie waren verhältnismäßig, weil der Gesetzgeber die Grundrechte der Betroffenen nicht außer Acht gelassen hat.

Bezüglich der Ausgangsbeschränkungen erkennt das Gericht, die Annahme des Gesetzgebers, mittels der angeordneten Ausgangsbeschränkungen die Anzahl der Infektionen reduzieren zu können, habe sich innerhalb des ihm bei der Einschätzung der Eignung und der Erforderlichkeit einer Maßnahme zustehenden Spielraums gehalten. Es fügt hinzu, umfassende Ausgangsbeschränkungen kämen nur in einer äußersten Gefahrenlage in Betracht. Im vorliegenden Fall war die Entscheidung des Gesetzgebers für die angegriffenen Maßnahmen in der konkreten Situation der Pandemie und nach den durch die sachkundigen Dritten bestätigten Erkenntnissen zu den Wirkungen der Maßnahmen und zu den großen Gefahren für Leben und Gesundheit tragfähig begründet und mit dem Grundgesetz vereinbar.

https://www.bundesverfassungsgericht.de ... E.2_cid507

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts macht deutlich, dass man - entgegen den Äußerungen von Politikern - die Frage, ob Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen verfassungsgemäß sind, nicht allgemein, sondern nur in Bezug auf die jeweilige Situation beantworten kann.
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