Im Beitrag vom 28.11.2018 habe ich darüber berichtet, dass die kolumbianischen Straßenverkäufer in Cali einen Verdrängungswettbewerb durch venezolanische Straßenverkäufer beklagen. Nun hat ein Straßenverkauf in Bogotá für Furore gesorgt:
Die Polizei filmte, wie ein Jugendlicher bei einer Straßenverkäuferin eine Empanada kaufte. Dem Jugendlichen wurde eine Strafe von 883.000 Pesos auferlegt. Ihm wird vorgeworfen, gegen Artikel 140 des Código de Policía verstoßen zu haben. Danach sei es verboten, den Gebrauch (uso) oder das Eindringen (invasión) in den öffentlichen Raum zu fördern (promover).
https://www.semana.com/nacion/articulo/ ... ndo/601839
Art. 140 des Código Nacional de Policía y Convivencia lautet bezüglich der hier einschlägigen Passage:
Comportamientos contrarios al cuidado e integridad del espacio público.
Los siguientes comportamientos son contrarios al cuidado e integridad del espacio público y por lo tanto no deben efectuarse:
…….
6. Promover o facilitar el uso u ocupación del espacio público en violación de las normas y jurisprudencia constitucional vigente. ……
https://www.policia.gov.co/sites/defaul ... vencia.pdf
Gegen welche Normen und welche Verfassungsrechtsprechung der Jugendliche verstoßen haben soll, weiß ich nicht. Ich konnte es auch nicht in Erfahrung bringen. Selbst wenn man annimmt, dass es solche Normen und solche Verfassungsrechtsprechung gibt, muss die verhängte Strafe aufgehoben werden. Denn sie verstößt gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.
Das deutsche Bundesverfassungsgericht leitet den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus dem Rechtsstaatsprinzip ab, wie es in Art. 20 des Grundgesetzes zum Ausdruck kommt. Eine Strafe muss in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen. Dazu müssen alle Umstände anhand konkreter Tatsachen ermittelt werden.
Gleiches gilt in Kolumbien: Art. 1 der kolumbianischen Verfassung besagt, dass Kolumbien ein Estado social de derecho, also ein sozialer Rechtsstaat ist.
http://www.secretariasenado.gov.co/sena ... _1991.html
Der kolumbianische Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dass behördliche Sanktionen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten müssen.
Las actuaciones administrativas sancionatorias están sujetas al principio de proporcionalidad.
http://www.corteconstitucional.gov.co/r ... 327-18.htm
Die gegen den Jugendlichen verhängte Strafe ist aufzuheben, weil sie dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zuwiderläuft:
1. Die auf der Straße verzehrte Empanada hatte einen Wert, der etwa einem Promille der Strafe entspricht. Dies ist ein eklatantes Missverhältnis.
2. Die Polizei selbst hat sich rechtswidrig verhalten. Aufgabe der Polizei ist es in erster Linie, Straftaten zu verhindern. Erst in zweiter Linie kommt die Strafverfolgung.
Die Polizei hätte den Jugendlichen deshalb darauf hinweisen müssen, dass er im Begriff war, sich strafbar zu machen. Stattdessen hat sie zugeschaut und so getan, als ob die Straßenverkäuferin ihre Ware rechtmäßig anbiete. Die Polizei hat dadurch den Eindruck vermittelt, es gehe alles mit rechten Dingen zu. Deshalb durfte der Jugendliche darauf vertrauen, dass der Verkauf unter den Augen der Polizei rechtmäßig vor sich gehe. Ansonsten hätte die Polizei den Straßenverkauf unterbinden müssen.
Deshalb konnte im jugendlichen Käufer kein Schuldgefühl aufkommen. Unter diesen Umständen eine Strafe von 883.000 Pesos zu verhängen, sprengt jede Angemessenheit.
Der Fall hat eine Debatte darüber ausgelöst, ob Straßenverkauf zum Schutz des öffentlichen Raums generell untersagt oder wegen des Rechts auf Arbeit geduldet werden solle. Eine Umfrage unter den Nutzern von noticias.caracoltv.com hat am 20. Februar 2019 um 9:00 Uhr Folgendes ergeben:
Von 6.223 Nutzern haben sich 34,34% für den Schutz des öffentlichen Raums und 65,66% für das Recht auf Arbeit ausgesprochen. Man kann also sagen, dass rund Zweidrittel den Straßenverkauf für richtig halten.